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Beitrag vom 02.10.2012
Kriegerin - ein Film von David Wnendt mit Alina Levshin und Jella Haase. Ab 9. Oktober 2012 auf DVD/BluRay
Sonja Baude
Ein kompromissloses, differenziertes und schmerzliches Sozialdrama, angesiedelt in der Neonazi-Szene, bei dem sich die Grenze von Fiktion und gegenwärtiger Realität bestürzend aufzulösen scheint.
Seit nunmehr vielen Wochen ist eine heiß geführte Diskussion in Deutschland über ein mögliches NPD-Verbot entbrannt. Ursächlich sind die Serienmorde der sogenannten Zwickauer Terrorzelle, die über ein Jahrzehnt unerkannt und unbehelligt ihr menschenverachtendes Unwesen treiben konnte. Der Ruf nach dem Staat, der nun mit der Verbotsfrage einhergeht, täuscht aber womöglich über den eigentlichen Schrecken, der durch das Land gehen sollte, hinweg: die Selbstverständlichkeit von Neonazismus in vielen Teilen der Bundesrepublik. Weniger sind die staatlichen Rechtsstrukturen zu überdenken, als vielmehr die BürgerInnen selbst gefordert, demokratische Zivilcourage zu zeigen und sich gegen Rechtes Denken und Agieren auszusprechen.
Mit seinem HFF-Abschlussfilm hat der Regisseur David Wnendt in diesem Zusammenhang einen beachtenswerten Beitrag geleistet. Dass seine "Kriegerin" zeitgenau in die politische Debatte eingreift, mag Zufall sein, zeigt aber umsomehr, dass wir es mit einem seit vielen Jahren virulenten und sehr ernstzunehmenden Problem zu tun haben. Ausgehend von Reiseerfahrungen Ende der neunziger Jahre in der Lausitz, in Sachsen, Sachsen-Anhalt und Brandenburg und nach genauer Recherche, nicht zuletzt mittels Interviews in der rechtsextremen Szene, schrieb Wnendt das Buch für sein Debut. Entstanden ist eine Milieustudie, in deren Fokus die Protagonistin Marisa (Alina Levshin) steht, ein aggressives, gewaltbereites, radikalisiertes und verbittertes zwanzigjähriges Skinheadmädchen, scheinbar aufgehoben in seiner gleichgesinnten Clique. In dieser Hauptfigur bündelt der Regisseur sämtliche, auch widersprüchliche Aspekte, die ihm bei seinen Nachforschungen begegneten.
Die Geschichte spielt in einer Kleinstadt irgendwo in Ostdeutschland, in einem hellen Sommer einer schönen Landschaft. Die Orte und Farben sind von Wnendt bewusst als Kontrapunkt gesetzt zu dem dumpfen und gewalttätigen Leben der Neonazis, das der Film erzählt: ein Leben in einer bildungsfernen Gesellschaft ohne formulierte Erwartungen auf eine Zukunft. Marisa arbeitet im kleinen Supermarkt des Ortes, in dem auch ihre Mutter beschäftigt ist. Wenn ihr jemand blöd kommt, schlägt sie zu, denn ihre Identität ist rechtsradikal, die Haare rasiert mit langen Strähnen an der Seite, auf dem Dekolleté hat sie ein Hakenkreuz tätowiert. Sie steht auf Kriegsfuß mit dem System. Während ihr Freund und Rädelsführer der ortsansässigen Skinheads wegen ausländerfeindlicher Gewalttaten im Knast sitzt, verbringt Marisa ihre Freizeit bei Nazirock und viel Bier mit Gleichgesinnten am Strand eines Badesees. Hier ist es, wo die Clique auf zwei afghanische Brüder trifft, die im benachbarten Asylbewerberheim untergebracht sind. Diese geben den entwürdigenden Anfeindungen der Skinheads schnell nach, verlassen den Platz, nicht ohne jedoch den Außenspiegel von Marisas Golf kaputt zu machen, bevor sie auf ihr Moped steigen. Marisa fährt wutentbrannt und aufgepeitscht von Alkohol und "Holocaust Reloaded" den beiden Brüdern nach und rammt sie auf der Landstraße mit dem Auto. Sie ist weit gegangen, zu weit womöglich und kann von nun an ihr Tun und Fühlen nicht mehr halten, so dass sie eine Läuterung erfahren wird, die sie selbst am Ende des Films zur Feindin der rechtsradikalen Ideologie werden lässt.
Alina Levshin wurde für ihre Rolle als Marisa zweifach als beste Schauspielerin ausgezeichnet: mit dem Förderpreis Deutscher Film und auf dem 35. International Filmfestival in São Paulo. In ihrer Figur gehen eine fanatisierte geistfeindliche sowie gleichzeitig eine durchlässige und emotional empfindsame Seite unbedingt überzeugend einher. Während sie im Freundeskreis ihre kalte Menschenverachtung lebt, die schaudern macht, wird sie im Kontakt mit ihrem Großvater, einem noch heute unverbesserlichen Altnazi, zur liebesbedürftigen Enkelin und dann später mit einem der afghanischen Brüder zur mitfühlenden Helferin. Ihre Zerrissenheit ist im Wortsinn atemberaubend und hinterlässt auch bei den ZuschauerInnen eine eigenartige Verstörung.
Auch Marisas jüngere Mitspielerin, Svenja (Jella Haase) überzeugt in ihrer Rolle als rechtsradikale Newcomerin. So ist es Wnendt mit der Wahl sämtlicher SchauspielerInnen gelungen, keine klischeebehafteten Charaktere festzuschreiben, sondern stattdessen eine sehr differenzierte Sicht auf ein Milieu, besonders deren weibliche Teilhaberinnen, zu werfen. Die Ursachen dieses Milieus werden im Film nicht auf gegenwärtige soziale Fragen wie Arbeitslosigkeit und Hartz 4 heruntergebrochen, sondern in einem größeren generationellen und kulturellen Zusammenhang ausfindig gemacht, in welchem politische Großeltern wie auch eine unpolitische Elterngegeration als Mitverantwortliche vorgeführt werden.
AVIVA-Tipp: "Kriegerin" ist ein sehr beachtenswerter Beitrag zur derzeitigen Diskussion über die Neonaziszene und birgt in sich zugleich die Forderung nach präziser Ursachenforschung des zeitgenössischen Rechtsradikalismus. Dabei bezieht Regisseur Wnendt in jedem Moment sehr genau Position und führt seiner ZuschauerInnenschaft schonungslos die abscheulichen und gewalttätigen Abgründe des Skinhead-Milieus, mit besonderem Augenmerk auf seine weiblichen Akteurinnen, vor Augen. "Kriegerin" kommt traurigerweise im exakt richtigen Augenblick in die deutschen Kinos.
Kriegerin
Deutschland 2011
Regie: David Wnendt
Label: Ascot Elite
Produktion: Mafilm, Eva-Marie Martens
In Koproduktion mit dem ZDF / Das Kleine Fernsehspiel und der HFF "Konrad Wolf"
Kamera: Jonas Schmager
Musik: Johannes Repka
Schnitt: Andreas Wodraschke
DarstellerInnen: Alina Levshin, Jella Haase, Sayed Ahmad, Gerdy Zint
FSK: 12 Jahre
Bildformat DVD: 2.35:1/ 16:9
Bildformat BluRay: 2.35:1/ 16:9 – 1080 – 24p – High Definition
Tonformat DVD: DTS 5.1, Dolby Digital 5.1
Tonformat BluRay: DTS-HD Master Audio
Untertitel: Deutsch für Hörgeschädigte
Lauflänge: 103 Minuten
Extras: Making of, Interviews, Behind the Scenes, Unterrichtsmaterial, Origianaltrailer, Trailershow
DVD- und BuRay-Start: 9. Oktober 2012
www.ascot-elite-film.de
Auszeichnungen
Förderpreis Deutscher Film 2011 für die beste Hauptdarstellerin (Alina Levshin)
Beste Darstellerin beim 35. Internationalen Filmfest São Paulo an Alina Levshin
Förderpreis Deutscher Film 2011 für das beste Drehbuch (David Wnendt)
First Steps Award 2011 in der Kategorie Abendfüllende Spielfilme
Prix Genève-Europe 2011 für das beste fiktionale Fernseh-Drehbuch eines Debütanten
www.kriegerin-film.de
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